Aus fernen Landen

Gleich ein ganzer Stapel dieser ungewöhnlichen kleinen Hefte fiel mir beim Entrümpeln des Lesezimmers meiner Großeltern in die Hände. Es handelt es sich um mehrere Ausgaben einer Jugendzeitschrift – das zeigt schon Titel Aus fernen Landen. Blätter für die deutsche Jugend zum Kennenlernen der weiten Welt.

Dieses Heft ist gut erhalten. Keine Flecken, Risse oder Eselsohren deuten auf sein Alter hin, selbst die zwei Klammern der Heftung sind frei von Rost. Lediglich das leicht vergilbte Papier und das eigentümliche Motiv machen stutzig. Heft Nr. 5 ist auf August 1933 datiert, gedruckt also ein halbes Jahr nach der nationalsozialistischen Machtübernahme in Deutschland. Zudem fällt auf: Im Vergleich zu heutigen Zeitschriften ist das Heft recht klein. Das Format gleicht dem für mehrseitige politische Flugblätter. Nur knapp finden unter dem Titel eine Zeichnung und ein Aufruf auf der Titelseite Platz. Diese aber haben es in sich.

 Eine gezeichnete Darstellung mit kolonialem Motiv, darunter der Aufruf: “Gebt uns unsere Kolonien wieder!” Zwei Männer, der vordere augenscheinlich europäischer, der hintere afrikanischer Herkunft, blicken aufrecht und nebeneinanderstehend in die Ferne. Eine wehende Reichsflagge nimmt die Bildmitte ein, während im Hintergrund Palmblätter, Meer und eine tropische Insel zu sehen sind. Beide Männer werden interessanterweise als Gleichgestellte und -gesinnte in Szene gesetzt: Sowohl Herrscher als auch Beherrschter stehen für die Rückkehr der deutschen Herrschaft ein, die mit der Abtretung der Kolonien nach dem Ersten Weltkrieg ein Ende gefunden hatte.

Völkisches für die Schule

Völkisches Gedankengut bildete den Kern der nationalsozialistischen Ideologie. Die Kolonien auf dem afrikanischen Kontinent hatten die Sonderstellung der Deutschen dokumentiert, folglich war deren Rückgewinnung ein wichtiges Ziel. Auch mit Hilfe solcher Hefte sollte die alte Stärke wieder erreicht werden. Deutsche Sitten und Gebräuche, deutsche Märchen und Sagen, deutsche Helden und deutsche Landschaften sollten wieder “Kraft, Mut und Freiheitswillen” in der Bevölkerung in einer angeblich “geschichtslosen Zeit” erwecken. Dieser Aufgabe nahm sich zwischen 1926 und 1936 der Heinrich Beenken-Verlag an. Der Verlag veröffentlichte in dieser Zeit mehrere Jugendzeitschriften mit verschiedenen Schwerpunkten: Die deutsche Heimat (1926), Aus der Wunderwelt der Natur (1928), Aus deutscher Vergangenheit (1929) und Aus fernen Landen (1931). Die Hefte sollten für vergleichsweise günstige 10 Reichspfennig teure Lesebücher ersetzen und im Falle unseres Exemplars koloniale Gedanken in den Köpfen der Schüler stärken.

Gegründet hatte den Verlag Ende des 19. Jahrhunderts der Pfarrer und Verleger Friedrich Zillessen. Spätestens Heinrich Beenken, welcher 1915 Verlag und Druckerei von seinem “väterlichen Freund” übernahm, unterstellte das Haus der völkischen Ideologie: Titel wie Das betörte deutsche Volk (1919) oder Was wir verloren haben (1920) sind Belege revanchistischer und völkisch-nationaler Gesinnung. Ab 1933 entwickelte sich Beenkens Haus zu einem der wichtigsten Partei-Verlage der NSDAP.

Welche Reichweite und Wirkung die Zeitschriften des Verlages hatten, ist unklar. Lehrer bestellten die Hefte proaktiv beim Verlag; eine Pflichtlektüre waren sie zu keiner Zeit. In seiner Festschrift zum fünfzigjährigen Bestehen 1938 jedenfalls feierte sich der Verlag dafür, dass die Zeitschriften in über 2000 Klassen gelesen wurden.

Dachbodenfunde

Zumindest die Familie meines Großvaters hat der Verlag damals erreicht. Gelangten die Hefte bereits seit 1933 in seinen Besitz, dann wahrscheinlich tatsächlich als schulisches Lern- und Anschauungsmaterial für den damals Siebenjährigen. Ob er sie aus Nostalgie gesammelt oder zur mahnenden Erinnerung an die eigene Kindheit aufbewahrt hat, lässt sich nicht mehr sagen. Immerhin haben die Stücke in den letzten 90 Jahren mehrere Umzüge schadlos überstanden und sind wahrscheinlich nicht zufällig erhalten geblieben. Und auch wenn sie nicht wortwörtlich auf dem Dachboden lagerten, erscheinen sie als typischer Dachbodenfund aus der Zeit des Nationalsozialismus.

Viele solcher Relikte werden bis heute rege gehandelt: Abzeichen, Orden und Urkunden, aber auch Waffen und Uniformen wechseln regelmäßig auf Flohmärkten und Auktionen die Besitzer. Solche sogenannten Militaria haben als Sachquellen kaum historischen Wert. Hefte wie dieses ermöglichen aber interessante Einblicke in die Mediengeschichte oder auch die Bildungsgeschichte in diesem dunklen Kapitel unserer Vergangenheit.